Weichdach überm Kopf

Da, wo die Autobahn nach Norden immer leerer wird und man im Juni auch nachts noch in den Sonnenuntergang fährt, wo die Weiden windschief sind und nur flaches Grün mit Himmel ist, da sind wir seit 5 Jahren zuhause. 6 Meter über NormalNull. Unser Hof wurde anno 1532 gerade noch so an den Geestrand gesetzt, dass man auch bei Sturmflut keine nassen Füße kriegte.

Von all diesen geographischen und historischen Besonderheiten, der Flusslandschaft zwischen Eider, Treene und Sorge, den Störchen, den Mooren, der Landflucht und den Biogasanlagen, hatten wir allerdings keine Ahnung, als wir unser Haus zum ersten Mal gesehen haben. Wir waren ahnungsloser als wir ahnten.

Es war Liebe auf den ersten Blick: Wildrosenhecken mit leuchtend roten Hagebutten, alte Apfelbäume und ein tiefes Reetdach. In der großen Diele mächtige Eichenbalken mit freiem Blick bis zum Giebel, eine kuschelige Einliegerwohnung im ehemaligen Pferdestall, schöne Sprossenfenster, ein Kachelofen in der „guten Stube“. Das perfekte Bild der nordischen Idylle! Und der ganze Traum, inklusive Anschluss an ein vertretbar schnelles Netz, zu einem Preis, für den man in Hamburg gerade mal ein Wohnklo bekommen hätte. Mein Mann, normalerweise eher besonnen und kein Freund von schnellen Entscheidungen, stand im großen Dielentor und beeindruckte mich mit dem nachdenklichen Ausspruch „Hier passen wir rein.“. Unsere 16-jährige Tochter okkupierte begeistert die Einliegerwohnung mit eigenem Eingang, und ich sah unsere Enkelkinder bereits unter blühenden Apfelbäumen mit den Lämmchen spielen. So ist das eben, wenn man verliebt ist.

Nur unsere Große, Studentin im hippen Berlin, war schockiert: Seid ihr denn völlig verrückt geworden? Stapelholm, das kennt kein Mensch, da will niemand hin und es ist gefühlte 10Tsd. Kilometer weit weg! Die Veränderung ist heftiger als wenn man nach London oder Kapstadt ziehen würde. Wir sind doch totale Stadtmenschen! – Na und? Wir haben gekauft.

Reet ist Gefühlssache

Ich war glücklich. Ein Reetdachhaus gehört zu meinen Kindheitsträumen, die bis dato an der „Vernunft“ der Erwachsenen gescheitert waren. Mein vorsichtiger Großvater befand 1967 beim Neubau vom familiären Landsitz, Reetdächer seien erstens zu teuer und zweitens brandgefährlich. Schon als Kind war ich derart vernünftigen Argumenten gegenüber wenig einsichtig und das hat sich, wie man sieht, bis heute gehalten.

Im Juli 2008 zogen wir ein. Mit Sack und Pack, unserer 16-jährigen Tochter und unserem griechischen Hund. Und drei Wochen später im August kam der Hagel. Eiskugeln so groß wie Tischtennisbälle. Katastrophenalarm im Dorf, einige Häuser „Land unter“. Wir nicht. Dafür war unser Haus nun von einem gammeligen Reetkranz umrandet. Einfach rundherum abrasiert die obere Schicht vom Dach. Der Hagel hatte dabei Löcher hinterlassen, die ich kaum richtig erkennen konnte, die aber im Laufe der letzten 5 Jahre beharrlich ihre Wirkung entfaltet haben. In diesen Hagelkuhlen blieb nach Regen das Wasser stehen und das Dach moderte still vor sich hin. Jedes Jahr wurde es grüner und bot interessanten Pflanzen guten Nährboden. Kleine Birken, Kastanienschösslinge und seltene Pilze wuchsen über unseren Köpfen und streckten ihre Wurzeln durchs Dach in Richtung Diele. Langsam machte sich die bittere Erkenntnis breit, dass wir neu decken müssen.

Unser altes Dach

3 Jahre haben wir gebraucht, um zu realisieren was da über uns an biochemischen Prozessen vor sich geht, weitere 2 Jahre um das Projekt Neues Reetdach zu planen und zu finanzieren. Am Ende eines langen Weges durch unzählige Formulare, Anträge, viel nachbarschaftliche Unterstützung und das Studium der Fachliteratur für Weichdachbesitzer hatten wir etwa die Hälfte der Gesamtkosten an Fördermitteln zusammen. Wir waren stolz und dankbar für die vielen freundschaftlichen Tipps. So konnte es gehen.

Wer aber nun glaubt, man rufe den Dachdecker an, lasse ihn kommen, seine Arbeit tun und das war’s, der hat zweifellos ein praktisches Hartdach.

Reetdachdecker ist kein eigener Lehrberuf, nicht jeder Dachdecker kann das. Also hört man sich um, wer mit wem welche Erfahrungen gemacht hat, und ist am Ende verwirrt. Der Eine hat das Reet angeblich im Regen stehen lassen, der Andere war unzuverlässig. Irgendetwas war offenbar immer falsch oder doch ziemlich dumm gelaufen. Vielleicht war das aber auch nur die Perspektive allzu penibler Bauherren? Ich wusste es nicht. Wir entschieden uns schließlich für den Handwerksbetrieb aus dem Nachbardorf, der schon in der dritten Generation die Dächer in der Gegend versorgt. Den kennt hier jeder, der wird seinen Ruf nicht ruinieren wollen. Wird schon schief gehen. Kaum war diese Entscheidung getroffen, tauchte die nächste wichtige Frage auf: Woher kommt das Reet? Aus Rumänien, Ungarn oder China? Aber wer will denn in einer Gegend, in der das widerstandsfähige Schilfgewächs zuhause ist, die Halme aus Asien importieren ?

Stapelholmer Reetfeld

Ich mag die Walnüsse, Erdbeeren und Äpfel aus meinem eigenen Garten, Fleisch, Milch und Joghurt vom Bauern nebenan und ich will kein Reet aus China! Ich bin wirklich kein grüner Hardliner, aber das ist eben Gefühlssache und die wiederum nehme ich ziemlich ernst. Also fragte ich mich durch die Fachkreise. Das heimische Reet, hieß es da, sei zu kurz und zu dünn für unser Dach, das sowieso problematisch sei, weil für Reet eigentlich nicht steil genug. Gleich zwei schlechte Nachrichten. Aber ich hatte mich bereits in die Sache verbissen.

Eines sonnigen, eiskalten Wintermorgens im letzten Februar stand Henning, ein befreundeter Nachbar, ebenfalls verhagelter Reetdachbesizer, in unserer Küche, schob uns entschlossen in sein Auto und kutschierte uns über eisglatte Feldwege zu einer vereisten Niederung wenige hundert Meter von unserem Dorf entfernt. Strenger Frost und Sonne, ideales Wetter zur Erntezeit! Guckt euch das an!

Ein knallrotes Kettenfahrzeug pflügte durch das hohe Reetfeld und spuckt alle paar Meter ein dickes Bündel auf den Hänger aus. Die diesjährige Ernte ist großartig, erklärte uns der junge Reetschneider begeistert, so viele, so kräftige und so lange Halme hätte er seit Jahren nicht geerntet! Na also, dann ist das doch für uns perfekt! Und wieso hat uns das bis heute keiner gesagt? Unser Nachbar legte besorgt den Kopf schief und der Reetschneider grinste vielsagend. Das könne er nu auch nich sagen. Er verkauft sein Reet bis jetzt nach Holland, die Dachdecker hier … wollen sein Reet wohl nicht. Und warum nicht? Achselzucken. Schweigen. Der Nachbar richtete sich auf, entschlossen, eine Initiative zu starten. Er kennt hier jeden und alle kennen ihn. Sein Wort gilt, er hat den größten Hof im Nachbardorf. Die müssen ja mal zur Vernunft kommen. Ist doch albern so was. Mir war das Ganze ein Rätsel. Wie schon häufiger blickte ich nicht durch die dörflichen Strukturen, die Interessen, die hier von wem gegen wen und warum vertreten werden. Darüber liegt nach wie vor ein dichter Nebel, der für Außerirdische wie uns undurchdringlich scheint. Aber in diesem Moment überwog die Freude über den Körperkontakt mit dem Stoff, der das Dach über unseren Köpfen werden sollte.

Wir fuhren mit durch’s Reetfeld, auf der zum Erntefahrzeug umgebauten, alpinen Pistenraupe. Es war eiskalt, furchtbar laut und staubig, aber ich war glücklich! Per Handschlag wurde der Deal besiegelt. Auf unser Dach kommt das Reet von nebenan!

Auszüge aus meinem Baustellentagebuch

Sonntag

Die beiden langen Seiten sind gedeckt, leuchten in der Sonne und das ganze Haus duftet nach frischem Reet. Alles wunderbar? Naja, nicht ganz. Betrachte ich das Dach von Innen, sieht es ausgesprochen unordentlich aus. Da gaaksen die Halme in teilweise chaotischem Wirrwarr durch die Dachsparren. Soll das so? Egal, so will ich es nicht. Aber ist es vielleicht üblich und gehört zur selbstverständlichen Nachbehandlung das zu begradigen? Oder muss ich jetzt autoritär und Bauherrisch werden? Eine mir ungewohnte Haltung als bisher lebenslange Mieterin. Um all diese drängenden Fragen beantworten zu können, backe ich Apfelkuchen und locke damit unseren Freund, Nachbarn und Architekt samt Dackel ins Haus. Nach Kuchen und Kaffee steigt er mit mir über die schmale Treppe auf den Boden, begutachtet das Desaster und gibt mir Recht. So geht’s ja nicht. Aber vorsichtig solle ich es anfangen, erst einmal davon ausgehen, dass die netten Handwerker sowieso beabsichtigen das am Ende zu regulieren. Dabei sollten sie aber dann gleich auch noch mit einem Gebläse die alten Spinnwegen hoch oben in den Balken verscheuchen und der Kniep sei eben auch noch zu flatterig. Kniep? Na, der Rand, da wo das Reet außen über die Mauer hinweg absteht, ganz unten eben. Aha. Na gut. So gehe ich also mit dem wichtigen Vorhaben zu Bett, morgen eine ernste Unterredung mit unseren Dachdeckern zu führen. Der erste Ernstfall in diesem Unternehmen. Gute Nacht!

Dienstag

Ich wurde erhört. Seit gestern ist ein Dachdecker zum Säubern auf dem Boden abgestellt. Und seit heute sind auch die Tischler da! Es muss doch schön sein, so sehnsüchtig erwartet zu werden. Seit März habe ich an dem Termin gearbeitet, heute haben wir den 15. Oktober und die Tischler sind da! Welche Freude! Aber, wie ich soeben erfahren habe, sind sie morgen auch schon wieder weg. Warum bin ich nicht Handwerker geworden? Sie restaurieren die alten Fenster mit viel Sachverstand, finde ich. Alles weg bis aufs gesunde Holz. Natürlich entdecken auch sie Bausünden aus grauer Vorzeit, stehen mit besorgter Miene kopfschüttelnd vor den Abdrücken vorsintflutlicher Nägel im Rahmenholz. Wie kann das angehen? Wer hat das denn verbrochen? Der Meister ist ein Gejagter. Sympathisch aber leidend. Ein Geworfener zwischen Termin setzenden Architekten und Bauherren. Nicht mehr Herr seiner eigenen Unternehmensplanung. So klagt er und hustet. Ich mache ihm einen Ingwertee, der Arme ist erkältet.

Donnerstag

Heute sollte das Dach eigentlich fertig werden, aber zum ersten Mal seit Baubeginn macht uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Südwestwind in Böen Stärke 10 und Schauer wie aus Eimern! Die Plane über den letzten Metern nacktem Dachstuhl flattert wie ein Segel im Wind und unten in der Diele pieselt es auf den schönen Ziegelboden. Da müssen sie nun noch mal ran, obwohl es schon nach 16 Uhr ist. Dachdeckers Feierabend. Jetzt hängen sie da oben bei Sturm und Regen und kloppen die flatternde Plane fest. Dachdecker verdienen ihr Geld auch nicht im Schlaf.

Freitag

Fäddich! Mit 7 Mann im Endspurt und mit einer Freitags-Überstunde ist unser Dach heute fertig geworden. Super Wetter, wolkenloser Himmel und laues Lüftchen als Wiedergutmachung für gestern. Wir sind glücklich! Der Winter kann kommen.

Samstag

Nach 5 Wochen Baustelle bricht nun die Zeit des Aufräumens an. Überall ist Reet. Reet unter den Füßen, Reet in den Haaren, Reet zwischen den Zähnen. Macht nichts! Ein neues Ritual hat sich etabliert: Morgens gehen wir mit dem ersten Kaffee in der Hand raus und gucken unser neues Dach an. Es leuchtet, es duftet, und es ist dicht! Die erste Prüfung hat es bestanden, am Abend schüttete es aus Kübeln. Kontrollgang auf den Boden: Knochentrocken. Aufatmen. Aber die Dachdecker werden mir fehlen. Wir hatten uns aneinander gewöhnt. Sie sprachen wenig, aßen viel, kamen täglich um 7 Uhr morgens und haben mich nie geweckt. Jeden Morgen, wenn ich so gegen halb zehn draußen auftauchte und mich bemühte so auszusehen, als sei ich schon seit Stunden auf den Beinen, rechnete ich mit irgendeinem ironischen Kommentar. Aber nichts. 5 Wochen lang nichts. Kein überflüssiges Geschnacke. Reetdachdecker rauben niemandem den Schlaf. Sie knien da oben auf ihren „Stühlen“ und nähen. Ohne Maschinen. Außer dem Radio, das von Arbeitsantritt bis Feierabend die gute Laune hoch hält, und gelegentlichem Hämmern ist nichts zu hören. Auf den langen Rundhölzern, die sie ins Reet einhängen, bewegen sie sich da oben mit schlafwandlerischer Sicherheit und einer Eleganz, die am Boden unerreicht ist. Immer ausbalanciert und sehr aufrecht.

Das ist nun vorbei.