Durchschnittsmenschen wie ich

Eigentlich dachte ich immer, ich sei etwas ganz besonderes. Wie ich darauf kam habe ich vergessen. Inzwischen musste ich allerdings feststellen, dass alle so denken. Jeder hält sich für einzigartig – mit Recht – und auf diese Weise sind wir doch alle wieder Durchschnitt. Mein Mann findet es beruhigend durchschnittlich zu sein. Er ist Linkshänder, rothaarig, Waldorfschüler und seine Eltern waren im Widerstand gegen Adolf. Er kann also gar nicht mitreden. Als ich ihn das erste Mal sah, dachte ich, er sei Engländer oder Ire. Nicht nur wegen der roten Haare, sondern auch wegen seines lässigen Understatements, das auf mich irgendwie britisch wirkte und ihn wohltuend von denen unterschied, die sich ständig gegen die eigene Brust trommeln mussten. Er sah eben mit der Souveränität desjenigen, der zur Ausnahmeerscheinung geboren war, auf den Rest der Welt. Bevor er überhaupt ein Wort an mich gerichtet hatte, und das sollte länger dauern als ich mir zu jenem Zeitpunkt vorstellen mochte, hatte meine Intuition mich bereits auf diesen Mann festgelegt. Abgesehen von den romantischen Erklärungen, die sicher ihre Berechtigung haben, glaube ich, dass mein Unbewusstes mich aus kompensatorischen Gründen in seine Arme gesteuert hat. Als Ausgleich sozusagen.

Denn bei mir ist doch alles ganz anders. Ich bin Rechtshänderin wie alle, aschblond wie die Meisten, ich fiel in der Schule vor allem durch Schwatzen, weniger durch Leistung auf wie Viele, und meine Großeltern waren Nazis wie damals fast alle. Meine Freundinnen haben wie ich vom Schrecken der Bombennächte traumatisierte Mütter, die bis heute die Zähne zusammen beißen, um ihre Wut und Panik und sicher noch viel mehr zurückzuhalten. Ein deutsches Jungmädel friert nicht. Angst und Gefühle überhaupt sind für sie tief drinnen bis heute eine Schwäche, und wer mag denn Schwäche zeigen, der in einer so bedrohlichen Welt Kind gewesen ist? Wir verstehen unsere Mütter. Heute, nach Jahren von Selbsterfahrungsgruppen, spirituellem Suchen und Yogi Tees. Trotzdem wäre es schöner gewesen, hätten sie ihre Angst zugeben können, denn dann hätten wir sie nicht stellvertretend übernehmen müssen. Ganz automatisch, still und unbemerkt wurde sie uns unter dem Küchentisch rüber geschoben. Und über dem Tisch hieß es, iss auf und sei froh, dass du was auf dem Teller hast. Das war Anfang der 50iger.

Die Angst vor dem Krieg, den ich selber nie erlebt hatte, begleitete meine Kindheit. Sie legte sich auf dunkle Kellertreppen, umgab das Elternhaus, wenn ich allein war und ließ es in meinen Träumen in grellen Farben explodieren. Sprechen konnte ich darüber nicht, schließlich wollte ich weder ausgelacht noch für verrückt erklärt werden. Das ist doch alles Hysterie. Mit diesen Worten wischte mein Vater Gefühle vom Tisch, die ihm irgendwie unangenehm waren. So, als wüsste ich doch in Wirklichkeit auch, dass meine Ängste nur eingebildet und völlig überdreht seien. Und ich wollte ihm doch unbedingt gefallen. Mein Vater war der Fixstern meiner kindlichen Gefühlswelt.

Er hatte Schwimmerstatur, konnte Schmetterlingsstil sogar in der Nordsee gegen Brandung, und war Flüchtling aus dem Osten. Bevor er als letzter Jahrgang mit 16 Jahren eingezogen wurde, hatte er die wesentlichen Werke von Nietzsche, Schopenhauer und Kleist bereits gelesen, der Legende nach auch verstanden und die SS Tätowierung unter dem Arm. Bei seinem Bemühen, das Erlebte dann zu vergessen oder doch wenigstens zu vernebeln, haben die Philosophen offensichtlich versagt, hilfreich waren schon eher Alkohol, Zigaretten und Frauen. Alles immer in großen Mengen, denn mein Vater war ein Mensch großer Gefühle. Und wie es nun mal so ist mit den Rauschmitteln, musste er die Dosierung im Laufe seines Lebens immer mehr steigern, um die erwünschte Wirkung zu erzielen. Immerhin ist er trotz 80 Zigaretten täglich, einer salonfähigen, gut eingependelten Alkoholabhängigkeit und seines überaus anstrengenden Liebeslebens – parallel zur Ehe mit meiner Mutter, versteht sich – doch 58 Jahre alt geworden. Mein Vater ist an den Spätfolgen des zweiten Weltkrieges gestorben, der zu einem ungünstigen Zeitpunkt auf das junge Leben eines sensiblen Mannes traf. Aber man muss sicher nicht besonders sensibel sein, um von den Schrecken des Krieges krank zu werden. Insofern auch hier wieder alles ziemlich normal für seine Zeit.

Natürlich habe ich, bevor ich meinen Ausnahmemann traf, versucht, mich ganz entschieden gegen die bürgerliche Familie zu stellen. Überhaupt, das Bürgertum. Die Doppelmoral. Wer auf sich hielt, wandte sich davon ab. Es musste doch Alternativen geben zur Angst und dem Zähne zusammen beißen. Natürlich gab es die! Ich musste mich nur einmal losreißen von den Erwartungen der Familie, insbesondere des Vaters und dann, nach einer kurzen, großen Unsicherheit, leuchtete ich, wenn auch ziemlich orientierungslos, neue Bezirke aus. Ich pilgerte durch die WGs des Univiertels, lernte, dass Rülpsen okay ist, das Klo keinen Schlüssel brauchte, der dialektische Materialismus schwer zu verstehen aber ein absolutes Muss ist, man auch mal Oben Ohne die Wohnungstür öffnen kann, wenn gerade kein Pulli zur Hand ist. Meine Güte, was für ein Aufatmen! Das Anarchische lag mir.

Auf die politischen WGs folgten die psychologischen, die waren anstrengend. Ich wurde aufgefordert, meine großbürgerlichen Gewohnheiten wie gelegentliches Shoppen aufzugeben. Es hieß, ich kompensiere damit irgendetwas anderes Schmerzliches. Ich fühlte mich schuldig. Aber ich bin gerne schick. Schwierig fand ich auch den Anspruch nur und immer authentisch sein zu müssen. Die meisten Psychologie-Studentinnen hatten Soziologie im Nebenfach und meinen Vater als Prüfer gewählt. Immer öfter war ich mit kichernden Blondinen meines Alters konfrontiert, sobald sie meinen Nachnamen hörten. Wäre ich in diesen Momenten authentisch geblieben, hätte sich die ganze Wut über diesen fortwährenden, peinlichen Betrug an meiner Mutter, die zu Hause saß und die Zähne zusammen biss, über diese albernen Mädchen entladen. So aber bin ich einfach nur gegangen, bevor sie ihre Affäre mit meinem Vater dem Freund zuende ins Ohr getuschelt hatten. Ich habe mich geschüttelt und mit den fünf Psychologen meiner WG nie darüber gesprochen.

Auf die psychologischen folgten dann die spirituellen WGs. Das war in mehr als einer Hinsicht ein Quantensprung. Hier ging es ums Ganze. Ich nahm einen neuen Namen an, kleidete mich in Orange, ließ meinen ersten beruflichen Erfolg, der auf eine Karriere hoffen ließ, sausen, und verschmolz im fernen Indien mit dem Rest der Menschheit. Glückseligkeit. Heim kommen. Für eine Zeit. Die orangene Familie aber erwies sich als bindungsunfähig, sie war ihrem Wesen nach nicht dazu geschaffen Verbindlichkeit einzugehen.

Ich war am Ende angekommen. Familien-alternativlos.

Und dann begegnete ich, am Rande dieses orangenen Ashrams, dem Linkshänder mit roten Haaren, dem Zähne zusammen beißen fremd ist, der mit einer Abscheu vor Uniformiertheit und preußischen Werten aufgewachsen ist. Inzwischen leben wir dreißig Jahre zusammen, haben zwei Töchter und probieren Familie so gut wie es eben gehen kann.

Dies ist der autobiografische Rahmen, aus dem sich Geschichten entwickelt haben. Nicht alle sind mir passiert, nicht alle sind überhaupt passiert, aber sie hätten sich so abspielen können unter Durchschnittsmenschen wie mir.

Kein Netz

Ein Haus kaufen ist ja ganz okay, eigentlich. Obwohl, ihre Mutter hat gerade ihren Job verloren, also, ist das schlau jetzt? Und vor allem: Doch nicht hier! Nur Grün und sonst gar nichts. Ein paar duftende Blüten bringen da auch nicht weiter. Keine Leute auf der Straße, einfach nur ruhig. Außer ihren Eltern und dem Makler. Der Typ textet die beiden komplett zu mit seinem Lobgesang auf diese alte Hütte, oh pardon, historisches Reetdachanwesen. Worte machen die Sache auch nicht besser.

Henriette ist sauer. Noch nie hat sie in ihrem 15-jährigen Leben das Gefühl gehabt, dass ihre Eltern sich über ihre Wünsche, schon gar nicht über ihre altersbedingten, somit angemessenen Bedürfnisse hinwegsetzen. Immer konnte sie mit ihnen vernünftig reden, mit ihrer Mutter Lilly auch sehr gut unvernünftig und trotzdem ist doch jedes Mal eine Lösung herausgekommen. Irgendwie. Zum Beispiel, dass sie mit dem Bildungssystem in diesem Land nicht kompatibel ist. Das haben sie doch auch eingesehen, weil sie es mit ihr erleben mussten. Es ist ja keine böse Absicht, dass sie mit den meisten Lehrern nicht kann, es ist einfach keine Verständigung möglich. Jedenfalls nicht ohne schmerzhafte Missverständnisse. Und das halte mal einer durch über die Jahre. 13 Jahre, genau genommen, davon liegen noch zwei vor ihr, denn am Abitur wird nicht gezweifelt. Das steht nicht zur Diskussion. Sonst fast alles. Manchmal wird mehr diskutiert als ihr selbst lieb ist. Bei den Schulausweisen, zum Beispiel, zum Vorzeigen bei Übertreten der roten Linie. Das war so eine Idee, die mal aufkam in ihrer Schule mitten in der Hansestadt, damit nicht unkontrolliert viele Schülerinnen in den Pausen oder Freistunden in Cafés verschwinden. Eine rote Linie ums Schulhaus. Da ist ihr Vater ausgerastet. Hat einen Brief an die Schulleitung geschrieben. Die Schule sei doch kein Kasernengelände oder Hochsicherheitstrakt, und seine Tochter hätte ausdrücklich die elterliche Erlaubnis, sich aus dieser Schule zu entfernen, wenn sie das so entscheide. Bei Übertreten der roten Linie trete seine, Jakob Hagedorns, Erziehungs-und Aufsichtspflicht in Kraft und er habe Vertrauen in Henriette. Was er sich, im Übrigen, auch von ihren Lehrern wünschen würde! Die Ausweise wurden aus Kostengründen nie eingeführt. Aber so wussten schon mal alle, wie ihr Vater tickt und dass er bei irgendwas Stumpfem, Kontrollierendem, insofern Sinnlosem komplett ausrastet. Das war für sie auch nicht nur angenehm. Henriette ist es jedenfalls gewohnt, dass ihre Eltern ihr den Rücken stärken, eher mehr als weniger. Und jetzt das hier! Ein Hauskauf im Nirgendwo. Völlig planlos.

Sie setzt sich auf einen Feldstein, um in Ruhe die aktuellen Posts und Nachrichten auf ihrem Smartphone durchzusehen. Die freundliche Aufforderung ihrer Mutter, doch mit hereinzukommen, um das Haus nun auch von Innen zu besichtigen, ignoriert sie. Geht gar nicht. Auch noch da rein ins Dunkel? Nein danke. Wozu? Ich will hier sowieso nicht sein.

Doch nicht hier! Nur Grün und sonst gar nichts.

Das kreischende Geräusch einer nahen Kettensäge veranlasst Henriette sich die Kopfhörer überzustülpen. Sie tut das schnell, routiniert, ohne aufzusehen. Sie ist nicht interessiert an dieser Welt hier und deren Geräuschquellen. Ärgerlich ist nur, dass ihr phone den Geist gerade aufgibt und sie damit zu den für sie einzig interessanten Welten den Kontakt zu verlieren droht. Aber wo ist hier eine Steckdose zum Auftanken? Henriette beschließt nun doch einmal aufzustehen, um möglicherweise irgendwo am Haus einen Stromanschluss zu finden. Falls man in dieser Gott verlassenen Gegend die Elektrizität schon entdeckt hat. Henriette ist sich da durchaus nicht sicher. Sie stolpert über Maulwurfshügel, durch wuchernde Brennesseln und Spinnenweben, bis ihre erfolglose Suche schließlich am Gartenzaun endet. Ihr auf das Nahziel Steckdose fixierter Blick erhebt sich langsam und nimmt nun auch solches wahr, das in mehreren Metern Entfernung zu sehen ist: Nackter muskulöser Oberkörper, tief sitzende Jeans, Schutzbrille noch so halb über der schweißnassen Stirn, sehr kurze braune Haare. Konzentriert und souverän zerlegt dieser junge Achill den gefällten, mächtigen Baumstamm in Einzelteile, ohne dabei aufzusehen! Henriette weiß nicht wie und warum, aber sie kann sich nicht bewegen. Keinen Zentimeter von der Stelle weg, an der sie nun wie festgenagelt steht. Sie streift ihre Kopfhörer ab und in demselben Moment hört die Kettensäge auf zu kreischen. Magisches Timing! Der junge Mann schiebt die Schutzbrille hoch, gibt dem Teil, das er gerade vom Baumstamm getrennt hat, einen kurzen Tritt, sodass es auf den Haufen zurollt, auf dem sich die Abschnitte bereits stapeln. Henriette weiß, dass sie in diesem Moment eine richtig blöde Figur abgibt, wie sie da steht ohne ersichtlichen Grund und einfach nur glotzt. Fieberhaft überlegt sie wie sie ihre Lage optimieren könnte….und sie…nein, wirklich! Sie hockt sich hin wo sie gerade steht und pflückt Blumen, als sein Blick ihrem begegnet. Das ist schrecklich! Das ist furchtbar! Erstens, er sieht auf sie herab und sie zu ihm auf! Das geht gar nicht! Und außerdem hat sie nun, wie eine Dreijährige, kurzstielige Gänseblümchen in der Hand! Das einzige, was an der Stelle blühte, an der sie in die Knie ging. Oh nein! Henriette flieht aus diesem Bild, in das sie da einfach so hineingestolpert war. Mit klopfendem Herzen schnell um die Hausecke und zurück zu dem einsamen Feldstein, den sie vorhin schon für sich entdeckt hatte. Atmen! Atmen! Hinter dem Haus hört sie die Kettensäge weiter kreischen und sie hat das Gefühl, als würde er dadurch mit ihr sprechen, oder jedenfalls in Verbindung bleiben. So eine Art fremdes Morse-Alphabet. Henriette sortiert sich. Smartphone mit Ladegerät und Kopfhörern in den Rucksack, Gänseblümchen fallen lassen, Rucksack über die Schulter und aufstehen. Ihre Knie geben nach. Die Kettensäge schreit sie an. „Bleib!“ – Oh Gott! Henriette schüttelt sich.

„Das musst du sehen!“ ihre Mutter schaut aus dem oberen Teil dessen heraus, was Henriette vorhin bereits als Klöntür vorgeführt wurde, und winkt sie dringlich heran. Henriette nimmt die Gelegenheit wahr, um sich aus ihrem lähmenden Schockzustand zu befreien. Einfach mal dahin gehen jetzt, Schritt für Schritt. Nichts anmerken lassen. Ihre Mutter mit roten Bäckchen und leuchtenden Augen! Die Lage scheint ernster als gedacht. „Ganz cool, Mama. Bleib mal bitte ruhig jetzt!“, Henriette sieht ihre Mutter beschwörend an, und versucht doch in erster Linie sich selbst zu beruhigen. Das gelingt ihr nur sekundenlang, aber sie stellt fest, dass ihre Mutter offensichtlich nichts von dem Ausnahmezustand, in dem sie sich befindet, mitbekommt. Sie ist zu sehr mit dem sensationellen Ereignis Hauskauf beschäftigt, ja völlig überwältigt, so befindet Henriette.

„Guck doch mal: Eine kleine, total schöne Einliegerwohnung! Die wäre dann für dich!“

Henriette sieht sich um. Daraufhin tauschen ihre Eltern schnell einen heimlichen, hoffnungsfrohen Blick und Henriette, die diesen Blick selbstverständlich registriert, verliert sofort die Lust. „Wenn ihr glaubt, nur weil ich mich jetzt hier umgucke….“ Henriette hört die ernste Stimme ihrer Mutter, bevor sie ihren Satz zuende bringen kann. „Was ist los mit dir? Haben wir dich je zu etwas gezwungen?“ Natürlich nicht. Überflüssige Frage. – Die Kettensäge kreischt von nebenan. – Außerdem darum geht es ja gar nicht. Es ist doch so, wenn sie sich darauf einlässt, das alles hier womöglich mit einem freundlicheren Blick zu betrachten, wenn sie das hier wirklich an sich heran ließe, dann weiß man doch überhaupt nicht wo das schlimmstenfalls enden könnte! Henriette Hagedorn, mit 15 aufs Land verschleppt, Fischbrötchen statt Sushi, Misthaufen statt Coffeeshop. Horror! Ihre gesamte Identität steht auf dem Spiel! Das Kreischen der Kettensäge bricht ab und Henriette wird nervös. Sie schaut durch eines der kleinen Stallfenster und, während hinter ihrem Rücken die schöne Lage am nahen Fluss lobend hervorgehoben wird, versucht Henriette, durch die blühenden Wildrosen hindurch, irgendwie einen Blick auf denjenigen werfen zu können, der doch noch bis eben von da hinten zu ihr herüber gesägt hat. Aber er ist weg. Kontakt abgebrochen.

„Hast du kein Foto?“ will Jule wissen als sie in der großen Pause an der Ecke einen Coffee-to-Go holen. „Nee, Akku war leer.“ Jule ist die Einzige, der sie von ihrer Begegnung mit dem Kettensäge-Typ erzählt hat. Allerdings auch nur das Oberflächliche: Gut aussehender Typ. Überraschende Begegnung. Denkt ja keiner an so was im Nirgendwo. – Das Andere, wie sehr sie dieses Bild verfolgt, wie weich ihre Knie waren und natürlich das mit den Gänseblümchen verschweigt sie. Allen.

Henriette lässt es sich selbst nur in seltenen Momenten spüren, aber in ihr nimmt ganz langsam eine gewagte Vorstellung Form an. Eine wahnsinnig revolutionäre Vorstellung, die ihr in diesen seltenen Momenten Schauer über den Rücken laufen lässt.

Aus dem Portemonnaie ihrer Mutter besorgt sich Henriette – wie immer heimlich – das Geld, das sie braucht, um den Stoff zu bezahlen, der ihr vor der Schule angeboten wird. Das Zeug ist sauber, sie kennt den Typen seit langem. Aber irgendwie ist das alles zur Routine geworden und irgendwie wird es langsam öde.

Abends sitzt sie mit ihrer Mutter auf ihrem Bett und die unterbreitet ihr den Kompromiss. Haus kaufen ja, aber umziehen erst später, wenn Henriette ihr Abi in der Tasche hat. Niemand will sie gegen ihren Willen verpflanzen. Henriette seufzt unmerklich. Ihr Hang zu radikalen Lösungen wird hiermit enttäuscht. Wenn ihre Eltern doch einmal ihr Ding durchziehen und nicht ständig für sie mitdenken würden! Henriette zwingt sich ihre Mutter anzusehen und nickt. „Mal gucken.“ Der forschende Mutter-Blick ruht noch einen Augenblick lang auf ihr und Henriette verspannt sich. Sie setzt ihr Neutral-und-Unbefangen-Gesicht auf, bis ihre Mutter sich endlich von ihr löst, aufsteht und mit einem liebevollen Gute Nacht Kuss aus ihrem Zimmer verschwindet. Henriette atmet auf. Dieses grenzenlose Vertrauen kann echt belastend sein. Henriette steht auf, schminkt sich und legt sich danach in ihrem Sommerkleid wieder ins Bett. Sie hört noch die Schlafzimmertür ihrer Eltern klappen, dann stülpt sie sich Kopfhörer über die Ohren, stellt am Laptop neben dem Kopfkissen ihre Lieblingsmusik an und entschwindet in Träume weg von hier, weg aus ihrer alltäglichen Welt.

Das Klopfen an der Verandatür wird lauter und holt sie zurück aus einem unsicheren Flug in fremde, exotische Länder. Henriette schreckt hoch, reißt die Tür auf und blafft die Truppe, die davor wartet an:“ Hey! Seid ihr bescheuert? Meine Eltern schlafen um die Ecke!“ –

„ Entspann dich! Die haben bisher noch nie was gemerkt.“ – „Und das soll auch so bleiben“, giftet Henriette zurück und außerdem habe sie keinen Bock mehr ewig den Stoff für alle zu bezahlen. Die drei Jungs aus ihrer Klasse lassen sich mit lässiger Selbstverständlichkeit auf dem Boden ihrer Veranda nieder und sehen Henriette auffordernd an. Widerwillig reicht sie ihnen den Stoff. „Für jeden ein Zehner!“ Louis, der Wortführer, vertröstet mit leiser Stimme, die keinen Widerspruch duldet, auf morgen oder Anfang nächsten Monats, wenn sie wieder Taschengeld einstreichen. Henriette kriegt die Wut. Sie ist einfach nicht gut drauf, wenn sie aus dem Schlaf gerissen wird, und noch schlechter, wenn Louis, dieser Schnösel aus reichem Hause, ihr erzählen will, dass er kein Geld hat. „Besorgt euch die Kohle, mir egal woher!“ Henriette wohnt mit ihren Eltern im Erdgeschoß eines Eckhauses nah bei ihrer Schule. Das ist praktisch, denn sie hat ein Zimmer mit ebenerdiger Veranda, das zur Seitenstraße rausgeht, während der Rest der großen Altbauwohnung mit ihren schlafenden Eltern darin, zur anderen Straße zeigt. Seit über einem Jahr hat sich ihre Veranda für die coole, prominente Kiffertruppe aus ihrer Klasse als geeigneter nächtlicher Treffpunkt bewährt. Nicht zuletzt, weil Henriettes Eltern keine nächtlichen Kontrollgänge oder so was veranstalten wie andere. Nur einmal stand die Nachbarin von oben vor ihrer Wohnungstür und hat sich bei ihrer Mutter über die süßliche Nebelwolke beschwert, in die sie neulich nachts von unten gehüllt worden sei. Eine spontane Geburtstagsparty mit unkontrollierbarer Überbelegung der Veranda. Blöd gelaufen. Aber Henriette konnte das erklären, ohne sich selbst zu belasten, hat sich für ihre Gäste entschuldigt und damit war das Thema durch. Aber jetzt gehen ihr diese nächtlichen Gäste mit ihrer unverfrorenen Penetranz selber auf den Geist. Die ziehen mich runter, stellt sie für sich fest, aber dann kommt Jule und Henriette setzt sich doch wieder mit auf die Erde und teilt das immer gleiche Ritual. Mit bekifftem Kopf sieht sie den Typ mit dem beeindruckenden Oberkörper und der Kettensäge vor sich, der sie von diesen schmalbrüstigen, insektenhaften Klappergestellen hier befreit. Einfach verscheucht, indem er einmal fest auftritt. Und huuiiii…flattern sie davon. Henriette lacht befreit. Aus dem Nebel heraustreten und wieder Lust haben Musik zu machen. Zum Beispiel. Überhaupt wieder Lust haben zu irgendwas. Nicht mehr supercool und bedröhnt sein zu müssen um dazu zugehören. Und nicht dazugehören geht gar nicht. Da bliebe ja nur noch, sich auf die Seite der ehrgeizigen Lernrennpferdchen in der Klasse zu schlagen, die nur lernen und wiedergeben, lernen und wiedergeben bis sie kotzen. Besten Dank. Das ist nicht ihr Ding. Henriette will leben. Trotz Schule. Und zwar jetzt. Und nicht irgendetwas tun, das sich jetzt schrecklich anfühlt, nur damit es sich irgendwann später vielleicht in etwas verwandelt, das sich dann gut anfühlt. So denken die Lernrennpferdchen. Denkt Henriette. Diese Lebensart findet sie abschreckend. Aber diesen Leuten hier aus ihrer Klasse, die jede zweite Nacht auf ihrer Veranda sitzen und doch so was wie Freunde sind eigentlich, hat sie noch nie ihre Musik vorgespielt. Zum Beispiel. Sie weiß, die würden sich nur lustig machen über sie und das tut sie sich nicht an. Und wenn das nicht möglich ist, sich mit dem zu zeigen, was ihr wirklich viel bedeutet, was ist das denn hier überhaupt für eine Veranstaltung?

Als es hell wird auf ihrer Veranda, Louis und die Jungs langsam aufwachen und sich benommen, wie in Zeitlupe, über das Geländer, durch die Büsche und dann über die noch menschenleere Straße davonmachen, sie Jule wachrüttelt, aus ihrem Bett verscheucht und sich selbst noch für ein paar kostbare Momente unter die angewärmte Decke kuschelt, da weiß Henriette, dass gerade etwas zu Ende gegangen ist.

Weichdach überm Kopf

Da, wo die Autobahn nach Norden immer leerer wird und man im Juni auch nachts noch in den Sonnenuntergang fährt, wo die Weiden windschief sind und nur flaches Grün mit Himmel ist, da sind wir seit 5 Jahren zuhause. 6 Meter über NormalNull. Unser Hof wurde anno 1532 gerade noch so an den Geestrand gesetzt, dass man auch bei Sturmflut keine nassen Füße kriegte.

Von all diesen geographischen und historischen Besonderheiten, der Flusslandschaft zwischen Eider, Treene und Sorge, den Störchen, den Mooren, der Landflucht und den Biogasanlagen, hatten wir allerdings keine Ahnung, als wir unser Haus zum ersten Mal gesehen haben. Wir waren ahnungsloser als wir ahnten.

Es war Liebe auf den ersten Blick: Wildrosenhecken mit leuchtend roten Hagebutten, alte Apfelbäume und ein tiefes Reetdach. In der großen Diele mächtige Eichenbalken mit freiem Blick bis zum Giebel, eine kuschelige Einliegerwohnung im ehemaligen Pferdestall, schöne Sprossenfenster, ein Kachelofen in der „guten Stube“. Das perfekte Bild der nordischen Idylle! Und der ganze Traum, inklusive Anschluss an ein vertretbar schnelles Netz, zu einem Preis, für den man in Hamburg gerade mal ein Wohnklo bekommen hätte. Mein Mann, normalerweise eher besonnen und kein Freund von schnellen Entscheidungen, stand im großen Dielentor und beeindruckte mich mit dem nachdenklichen Ausspruch „Hier passen wir rein.“. Unsere 16-jährige Tochter okkupierte begeistert die Einliegerwohnung mit eigenem Eingang, und ich sah unsere Enkelkinder bereits unter blühenden Apfelbäumen mit den Lämmchen spielen. So ist das eben, wenn man verliebt ist.

Nur unsere Große, Studentin im hippen Berlin, war schockiert: Seid ihr denn völlig verrückt geworden? Stapelholm, das kennt kein Mensch, da will niemand hin und es ist gefühlte 10Tsd. Kilometer weit weg! Die Veränderung ist heftiger als wenn man nach London oder Kapstadt ziehen würde. Wir sind doch totale Stadtmenschen! – Na und? Wir haben gekauft.

Reet ist Gefühlssache

Ich war glücklich. Ein Reetdachhaus gehört zu meinen Kindheitsträumen, die bis dato an der „Vernunft“ der Erwachsenen gescheitert waren. Mein vorsichtiger Großvater befand 1967 beim Neubau vom familiären Landsitz, Reetdächer seien erstens zu teuer und zweitens brandgefährlich. Schon als Kind war ich derart vernünftigen Argumenten gegenüber wenig einsichtig und das hat sich, wie man sieht, bis heute gehalten.

Im Juli 2008 zogen wir ein. Mit Sack und Pack, unserer 16-jährigen Tochter und unserem griechischen Hund. Und drei Wochen später im August kam der Hagel. Eiskugeln so groß wie Tischtennisbälle. Katastrophenalarm im Dorf, einige Häuser „Land unter“. Wir nicht. Dafür war unser Haus nun von einem gammeligen Reetkranz umrandet. Einfach rundherum abrasiert die obere Schicht vom Dach. Der Hagel hatte dabei Löcher hinterlassen, die ich kaum richtig erkennen konnte, die aber im Laufe der letzten 5 Jahre beharrlich ihre Wirkung entfaltet haben. In diesen Hagelkuhlen blieb nach Regen das Wasser stehen und das Dach moderte still vor sich hin. Jedes Jahr wurde es grüner und bot interessanten Pflanzen guten Nährboden. Kleine Birken, Kastanienschösslinge und seltene Pilze wuchsen über unseren Köpfen und streckten ihre Wurzeln durchs Dach in Richtung Diele. Langsam machte sich die bittere Erkenntnis breit, dass wir neu decken müssen.

Unser altes Dach

3 Jahre haben wir gebraucht, um zu realisieren was da über uns an biochemischen Prozessen vor sich geht, weitere 2 Jahre um das Projekt Neues Reetdach zu planen und zu finanzieren. Am Ende eines langen Weges durch unzählige Formulare, Anträge, viel nachbarschaftliche Unterstützung und das Studium der Fachliteratur für Weichdachbesitzer hatten wir etwa die Hälfte der Gesamtkosten an Fördermitteln zusammen. Wir waren stolz und dankbar für die vielen freundschaftlichen Tipps. So konnte es gehen.

Wer aber nun glaubt, man rufe den Dachdecker an, lasse ihn kommen, seine Arbeit tun und das war’s, der hat zweifellos ein praktisches Hartdach.

Reetdachdecker ist kein eigener Lehrberuf, nicht jeder Dachdecker kann das. Also hört man sich um, wer mit wem welche Erfahrungen gemacht hat, und ist am Ende verwirrt. Der Eine hat das Reet angeblich im Regen stehen lassen, der Andere war unzuverlässig. Irgendetwas war offenbar immer falsch oder doch ziemlich dumm gelaufen. Vielleicht war das aber auch nur die Perspektive allzu penibler Bauherren? Ich wusste es nicht. Wir entschieden uns schließlich für den Handwerksbetrieb aus dem Nachbardorf, der schon in der dritten Generation die Dächer in der Gegend versorgt. Den kennt hier jeder, der wird seinen Ruf nicht ruinieren wollen. Wird schon schief gehen. Kaum war diese Entscheidung getroffen, tauchte die nächste wichtige Frage auf: Woher kommt das Reet? Aus Rumänien, Ungarn oder China? Aber wer will denn in einer Gegend, in der das widerstandsfähige Schilfgewächs zuhause ist, die Halme aus Asien importieren ?

Stapelholmer Reetfeld

Ich mag die Walnüsse, Erdbeeren und Äpfel aus meinem eigenen Garten, Fleisch, Milch und Joghurt vom Bauern nebenan und ich will kein Reet aus China! Ich bin wirklich kein grüner Hardliner, aber das ist eben Gefühlssache und die wiederum nehme ich ziemlich ernst. Also fragte ich mich durch die Fachkreise. Das heimische Reet, hieß es da, sei zu kurz und zu dünn für unser Dach, das sowieso problematisch sei, weil für Reet eigentlich nicht steil genug. Gleich zwei schlechte Nachrichten. Aber ich hatte mich bereits in die Sache verbissen.

Eines sonnigen, eiskalten Wintermorgens im letzten Februar stand Henning, ein befreundeter Nachbar, ebenfalls verhagelter Reetdachbesizer, in unserer Küche, schob uns entschlossen in sein Auto und kutschierte uns über eisglatte Feldwege zu einer vereisten Niederung wenige hundert Meter von unserem Dorf entfernt. Strenger Frost und Sonne, ideales Wetter zur Erntezeit! Guckt euch das an!

Ein knallrotes Kettenfahrzeug pflügte durch das hohe Reetfeld und spuckt alle paar Meter ein dickes Bündel auf den Hänger aus. Die diesjährige Ernte ist großartig, erklärte uns der junge Reetschneider begeistert, so viele, so kräftige und so lange Halme hätte er seit Jahren nicht geerntet! Na also, dann ist das doch für uns perfekt! Und wieso hat uns das bis heute keiner gesagt? Unser Nachbar legte besorgt den Kopf schief und der Reetschneider grinste vielsagend. Das könne er nu auch nich sagen. Er verkauft sein Reet bis jetzt nach Holland, die Dachdecker hier … wollen sein Reet wohl nicht. Und warum nicht? Achselzucken. Schweigen. Der Nachbar richtete sich auf, entschlossen, eine Initiative zu starten. Er kennt hier jeden und alle kennen ihn. Sein Wort gilt, er hat den größten Hof im Nachbardorf. Die müssen ja mal zur Vernunft kommen. Ist doch albern so was. Mir war das Ganze ein Rätsel. Wie schon häufiger blickte ich nicht durch die dörflichen Strukturen, die Interessen, die hier von wem gegen wen und warum vertreten werden. Darüber liegt nach wie vor ein dichter Nebel, der für Außerirdische wie uns undurchdringlich scheint. Aber in diesem Moment überwog die Freude über den Körperkontakt mit dem Stoff, der das Dach über unseren Köpfen werden sollte.

Wir fuhren mit durch’s Reetfeld, auf der zum Erntefahrzeug umgebauten, alpinen Pistenraupe. Es war eiskalt, furchtbar laut und staubig, aber ich war glücklich! Per Handschlag wurde der Deal besiegelt. Auf unser Dach kommt das Reet von nebenan!

Auszüge aus meinem Baustellentagebuch

Sonntag

Die beiden langen Seiten sind gedeckt, leuchten in der Sonne und das ganze Haus duftet nach frischem Reet. Alles wunderbar? Naja, nicht ganz. Betrachte ich das Dach von Innen, sieht es ausgesprochen unordentlich aus. Da gaaksen die Halme in teilweise chaotischem Wirrwarr durch die Dachsparren. Soll das so? Egal, so will ich es nicht. Aber ist es vielleicht üblich und gehört zur selbstverständlichen Nachbehandlung das zu begradigen? Oder muss ich jetzt autoritär und Bauherrisch werden? Eine mir ungewohnte Haltung als bisher lebenslange Mieterin. Um all diese drängenden Fragen beantworten zu können, backe ich Apfelkuchen und locke damit unseren Freund, Nachbarn und Architekt samt Dackel ins Haus. Nach Kuchen und Kaffee steigt er mit mir über die schmale Treppe auf den Boden, begutachtet das Desaster und gibt mir Recht. So geht’s ja nicht. Aber vorsichtig solle ich es anfangen, erst einmal davon ausgehen, dass die netten Handwerker sowieso beabsichtigen das am Ende zu regulieren. Dabei sollten sie aber dann gleich auch noch mit einem Gebläse die alten Spinnwegen hoch oben in den Balken verscheuchen und der Kniep sei eben auch noch zu flatterig. Kniep? Na, der Rand, da wo das Reet außen über die Mauer hinweg absteht, ganz unten eben. Aha. Na gut. So gehe ich also mit dem wichtigen Vorhaben zu Bett, morgen eine ernste Unterredung mit unseren Dachdeckern zu führen. Der erste Ernstfall in diesem Unternehmen. Gute Nacht!

Dienstag

Ich wurde erhört. Seit gestern ist ein Dachdecker zum Säubern auf dem Boden abgestellt. Und seit heute sind auch die Tischler da! Es muss doch schön sein, so sehnsüchtig erwartet zu werden. Seit März habe ich an dem Termin gearbeitet, heute haben wir den 15. Oktober und die Tischler sind da! Welche Freude! Aber, wie ich soeben erfahren habe, sind sie morgen auch schon wieder weg. Warum bin ich nicht Handwerker geworden? Sie restaurieren die alten Fenster mit viel Sachverstand, finde ich. Alles weg bis aufs gesunde Holz. Natürlich entdecken auch sie Bausünden aus grauer Vorzeit, stehen mit besorgter Miene kopfschüttelnd vor den Abdrücken vorsintflutlicher Nägel im Rahmenholz. Wie kann das angehen? Wer hat das denn verbrochen? Der Meister ist ein Gejagter. Sympathisch aber leidend. Ein Geworfener zwischen Termin setzenden Architekten und Bauherren. Nicht mehr Herr seiner eigenen Unternehmensplanung. So klagt er und hustet. Ich mache ihm einen Ingwertee, der Arme ist erkältet.

Donnerstag

Heute sollte das Dach eigentlich fertig werden, aber zum ersten Mal seit Baubeginn macht uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Südwestwind in Böen Stärke 10 und Schauer wie aus Eimern! Die Plane über den letzten Metern nacktem Dachstuhl flattert wie ein Segel im Wind und unten in der Diele pieselt es auf den schönen Ziegelboden. Da müssen sie nun noch mal ran, obwohl es schon nach 16 Uhr ist. Dachdeckers Feierabend. Jetzt hängen sie da oben bei Sturm und Regen und kloppen die flatternde Plane fest. Dachdecker verdienen ihr Geld auch nicht im Schlaf.

Freitag

Fäddich! Mit 7 Mann im Endspurt und mit einer Freitags-Überstunde ist unser Dach heute fertig geworden. Super Wetter, wolkenloser Himmel und laues Lüftchen als Wiedergutmachung für gestern. Wir sind glücklich! Der Winter kann kommen.

Samstag

Nach 5 Wochen Baustelle bricht nun die Zeit des Aufräumens an. Überall ist Reet. Reet unter den Füßen, Reet in den Haaren, Reet zwischen den Zähnen. Macht nichts! Ein neues Ritual hat sich etabliert: Morgens gehen wir mit dem ersten Kaffee in der Hand raus und gucken unser neues Dach an. Es leuchtet, es duftet, und es ist dicht! Die erste Prüfung hat es bestanden, am Abend schüttete es aus Kübeln. Kontrollgang auf den Boden: Knochentrocken. Aufatmen. Aber die Dachdecker werden mir fehlen. Wir hatten uns aneinander gewöhnt. Sie sprachen wenig, aßen viel, kamen täglich um 7 Uhr morgens und haben mich nie geweckt. Jeden Morgen, wenn ich so gegen halb zehn draußen auftauchte und mich bemühte so auszusehen, als sei ich schon seit Stunden auf den Beinen, rechnete ich mit irgendeinem ironischen Kommentar. Aber nichts. 5 Wochen lang nichts. Kein überflüssiges Geschnacke. Reetdachdecker rauben niemandem den Schlaf. Sie knien da oben auf ihren „Stühlen“ und nähen. Ohne Maschinen. Außer dem Radio, das von Arbeitsantritt bis Feierabend die gute Laune hoch hält, und gelegentlichem Hämmern ist nichts zu hören. Auf den langen Rundhölzern, die sie ins Reet einhängen, bewegen sie sich da oben mit schlafwandlerischer Sicherheit und einer Eleganz, die am Boden unerreicht ist. Immer ausbalanciert und sehr aufrecht.

Das ist nun vorbei.

Schlafstörungen

Nachts halb drei auf einer Bundesstrasse in Nordfriesland. Regen prasselt gegen die Windschutzscheibe des Polizeiwagens. Der Beamte am Steuer kneift die müden Augen zusammen, man sieht so gut wie nichts mehr. Er ist schließlich auch nicht mehr der Jüngste, diese Einsätze nachts kosten ihn wertvolle Stunden des nächsten Tages und dabei kommt morgen Besuch und seine Frau hat zwei Tage dafür gebacken. „Da musst du nu durch, Jürgen.“ Der Kollege auf dem Beifahrersitz kramt seinen Zettel mit den Einsatzdaten heraus: Verdächtiges Fahrzeug, Achter’n Diek in Norderhöft.„Hier rechts!“ Jürgen nimmt den Fuß vom Gas und kriegt gerade noch die Kurve. Er kennt hier jede Hecke, aber nachts bei diesem Wetter kann man sich schon mal vertun mit den Entfernungen. „Sommer kenn ich anders.“ Bei langsamer Fahrt durch das schlafende Dorf und dann immer weiter am Deich längs rätseln die Kollegen über den Sinn ihres Tuns. Achter’n Diek, da haben sich doch die Leute aus Hamburg den alten Jönshof ausgebaut. Schauspieler oder so. Jedenfalls vom Fernsehen. Oder Radio? Deren Nachbarin jedenfalls, die alte Siemsen, die sie alarmiert hat, wohnt mindestens 400 Meter weit weg von denen. Wie konnte die mitten in der Nacht ein verdächtiges Fahrzeug erkennen? „Die muss wieder mit ihrem Nachtglas zugange gewesen sein.“ – „ Is nich ihrs, is das von ihrem Mann. Und der is seit 10 Jahren tot.“ – „Na und? Is doch gut, wenn die Leute aufeinander aufpassen.“ – „So kann man das auch nennen.“ Irgendwo rechts vor ihnen, tauchen verschwommen Lichter auf. Der alte Jönshof ist noch wach. „ Da is er!“ Neben einem unbeleuchteten Mercedes halten sie an und steigen in aller Ruhe aus. Die alten Knochen wollen nach langem Sitzen im Auto erstmal vorsichtig gedehnt werden. Jürgen deutet mit einer minimalen Kopfbewegung auf die schlafende Gestalt hinter dem Steuer der eleganten Limousine. Der Kollege leuchtet dem Schlafenden gnadenlos mit seiner Taschenlampe ins Gesicht. Sie nehmen Haltung an. „Na, denn wollen wir mal.“

Trixi hat ihren Kopf tief in die Kissen gewühlt. Zwischen ihren wirren, blonden Locken ist ihr Gesicht kaum erkennbar. Der einzige Hinweis auf ihr Alter und einen verpassten Friseurbesuch ist der Schimmer ihrer nachwachsenden, grauen Strähnen am Haaransatz. Ansonsten ist Trixi unter voluminösem Bettzeug mit freundlichem Blümchenmuster völlig verschwunden. Neben ihr, auf der unberührten Hälfte des Doppelbettes hat sich eine getigerte Katze zum Schlafen eingerollt. Trixi liegt bewegungslos wie die Katze, aber sie schläft nicht. Noch nicht. Sie konzentriert sich seit etwa einer Stunde auf den Rhythmus ihres Herzschlags, der wegen der Stöpsel in ihren Ohren überlaut von Innen pocht und sich mit den dumpf dröhnenden Bässen aus Jans Tonstudio hinten in der Diele ungünstig mischt. Da entstehen immer wieder unerwartete Pausen und Synkopen, die ein sanftes Hinübersegeln in den ersehnten Schlaf schwierig machen. Trixi gibt sich der Lage ganz und gar hin und wartet. Nach mehr als zweieinhalb Jahrzehnten Ehe mit einem Musiker weiß sie, irgendwann gibt ihr Körper auf, findet seinen eigenen Rhythmus und entlässt sie aus ihren Gedanken um Geld, Haus, Kinder und die hartnäckigen Comeback-Versuche ihres Mannes in einen erholsamen Schlaf, aus dem sie allmorgendlich mit dem unerschütterlichen Optimismus erwacht, mit dem sie ihre Familie zuverlässig auf Kurs hält. Immer schon.

Happy end ist ihr Credo. Unglückliche Lebensumstände sind für Trixi nur eine Herausforderung an den persönlichen Handlungswillen und vor allem, eine Sache der Interpretation. Glück fordert den Mut zum Risiko, in der Sicherheit des Unglücklichseins kann sich jeder mehr oder weniger bequem einrichten: Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Ich habe ja nichts mehr zu verlieren.

Im Sinne ihrer zentralen Glaubenssätze hat sie nicht nur ihre beiden Töchter erzogen und ihren Mann energisch aus wiederkehrenden Schaffenskrisen getrieben, sie sind das Herzstück ihres beruflichen Erfolges. Trixi schreibt Liebesromane und das mit leichter Hand und ehrlicher Überzeugung. Ihre vornehmlich weibliche Leserschaft folgt den Helden ihrer Geschichten seit langen Jahren treu durch alle emotionalen Höhen und Tiefen, denn sie können sicher sein, am Ende reiten Prinz und Prinzessin glücklich in den Sonnenuntergang. Alles wird gut.

Seit einiger Zeit, seit sie für ihr strahlendes Blond alle sechs Wochen hundertzwanzig Euro beim Friseur lassen muss, und neulich beim Betrachten eines Fotos feststellen musste, dass ihre oberen Schneidezähne durch lebenslangen Gebrauch offensichtlich kürzer geworden sind, seitdem schleicht sich in Trixis Licht durchflutete Gedankenwelt eine neue störende Gestalt ein. Die irgendwie vertraute und gleichzeitig beunruhigende Präsenz des Todes. Trixi spricht mit niemandem darüber, aber für sich selbst hat sie das Gefühl an einem entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben zu stehen, denn die Frage, die sich ihr aufdrängt, konnte sie noch nicht befriedigend beantworten: Kann man sich den Tod als Happy end vorstellen? Mit ausgefahrenen Krallen und einem wütenden Schrei landet die Katze erst auf, dann neben Trixis Kopf und sucht Deckung in ihrer wirren Mähne. „ Da stehen zwei Polizisten vor der Tür!“ Jan steht mit seinen schlaksigen ein Meter neunzig vor dem Bett und fixiert wütend die Katze, die ihrerseits giftig zurückfunkelt und in diesem Machtkampf des bösen Blickes deutlich vorne liegt. Es ist offensichtlich, dass man sich nicht besonders mag. „Ich will nicht, dass dieses Tier in meinem Bett schläft!“ Trixi kommt erschrocken aus ihrer Zwischenwelt hoch und zieht sich die Stöpsel aus den Ohren. „Polizei?“ – „Die wollen mit irgendwem reden.“

Die beiden Polizeibeamten stehen im Regen vor der geöffneten Haustür. Vom Reetdach tropft es unbarmherzig herab auf ihre Uniformmützen. In ihrer Mitte steht ein starker Kerl im dunklen Anzug, der sich bemüht, die Wirkung seines mächtigen Körpers durch ein verbindliches Lächeln auszugleichen. Das Wasser läuft ihm in kleinen Rinnsalen von Nase und Kinn, dieses Lächeln ist seiner Lage also ganz und gar unangemessen. Trixi erscheint barfuss in ihrem weißen Morgenmantel an der Tür. Die Haare stehen ihr zu Berge. „ Ist was passiert?“ Jürgen tippt sich grüßend mit dem Zeigefinger an die Uniformmütze. „Noch nicht.“ Trixi atmet halbwegs erleichtert durch und bittet die Männer herein. Jan verschwindet wieder hinten in seinem Tonstudio und überlässt wie immer den Kontakt mit der Welt da draußen seiner Frau. Trixi hofft, dass er eine Gedankenpause einlegt in der Arbeit mit seiner musikalischen Neuentdeckung. Sie braucht jetzt mal einen Moment Ruhe. Der Mann im Anzug wischt sich kurz das Wasser aus dem Gesicht und streckt ihr seine nasse Hand dann entgegen.„Kurt. Angenehmen.“ Trixi sieht die Polizisten irritiert an, während sie Kurt in höflicher Reaktion ihre Hand drücken lässt. Kurt, so erklären die Beamten, sei aufgefallen, weil er seit Stunden ihren Hof vom Wagen aus beobachte. Das müsse man nun überprüfen, weil andernfalls…Kurt’s Geduld ist mit dem nordfriesischen Redetempo der Polizisten überfordert. „ Ick bin der Bodyguard von Joachim Menders.“ Erwartungsvoll sieht er Trixi an, aber die reagiert nicht. „Was…? Wer ?“ Kurt wird langsam pampig. „Der liegt jetze bei ihrer Tochter im Bett, nehm ick mal an.“ Der Mann ist ihr unangenehm. Jemand, der ihr erzählen will, wer bei einer ihrer Töchter im Bett liegt und glaubt, das wisse sie nicht, hat bei Trixi schon verloren. Die Katze durchschreitet hoch erhobenen Schwanzes die Diele, ohne die Anwesenden eines Blickes zu würdigen, lässt sich ganz hinten, auf dem Fenstersims neben dem Großen Dielentor nieder und schaut hinaus ins Dunkel. Eine kurze Lektion in Sachen Souveränität an die Hausherrin. Doch die hat das nicht bemerkt. „Cassandra!“ Trixis Alarmton hallt hinauf in das Obergeschoss.

Augenblicke später erscheint ihre Tochter mit Freund Joe an der Hand in der Diele. Beide barfuss, verschlafen, in Boxershorts und mit roten T-shirts, auf denen je zwei schwarze Großbuchstaben der Welt mitteilen, was sie von ihr halten: N und O. NO! Kurt grinst selbstzufrieden bei dem Anblick des jungen Paares. „Da ist er ja.“ Der schmächtige Junge, dem die halblangen Haare weich bis auf die Schultern fallen, wirkt seltsam unberührt. „Hallo Kurt.“ Die Polizisten ziehen aufgrund dieser vertraulichen Begrüßung kurz die Augenbrauen hoch, Trixi wird nervös, Cassandra bittet Joe um Erklärung. „Was soll das hier?“ – „ Das ist mein Bodyguard.“ Cassandra kreischt hysterisch auf. „ Krass!“ Joe bleibt bei seinem Gleichmut. Trixi ist das irgendwie unsympathisch. Unter all den Jungs und Männern, die Cassandra ihnen in den Semesterferien oder mal an Wochenenden präsentiert hat – und das waren, weiß Gott, einige – war keiner so cool wie Joe. Und dabei wirkt er so zart und unsicher. Joe ist eine Spur zu lässig, fast wirkt er auf Trixi wie einer, der ein schweres Schicksal zu tragen gelernt und keine Kraft mehr für Aufregung hat. „Mein Vater arbeitet bei einer Bank. Kurt ist mein Aufpasser wegen Entführung und so. Lösegeld, der ganze Scheiß.“ Kurt korrigiert an dieser Stelle kurz, der Vater arbeite nicht bei einer Bank, ihm gehöre die Bank. Cassandra schießen Tränen in die Augen: „Und wieso weiß ich das nicht?!“ Genau das hat Trixi befürchtet. Ihrer Tochter ist die Bank egal, ihr ist Kurt egal, sie reagiert nur auf eins, dass Joe sie belogen hat. Immerhin, Joe verteidigt sich: „Hab ich Bock mit so einem miesen Image rumzulaufen? Ich bin voll links, eye!“ Trixi versteht ihn in diesem Punkt, Cassandra nicht. Sie wendet sich ab, stapft die Treppe nach oben, wobei jeder Schritt die Wucht ihrer Kränkung auf das alte Eichenholz überträgt. Oben angekommen knallt sie lautstark die Tür hinter sich zu. Die wütende Stimme ihrer Schwester ist auch unten in der Diele gut zu hören. „ Kann hier mal EINER Rücksicht auf Schüler nehmen?! “

Vier übermüdet aussehende Musiker werden von Jan an der Haustür in die Nacht entlassen. Die Polizisten sehen ihnen kurz befremdet nach, dann verabschieden sie sich auch und verlassen mit Kurt das Haus. „Nichts für ungut.“ – „ Allet klar, Jungs. Ihr tut ja auch nur eure Pflicht, wa.“

Jan brüht in der Küche noch ihren Nachttee auf. Thymian mit etwas Lavendelblüten und Zitronenmelisse, geerntet in Trixis Küchengarten an der Ostseite, gleich hinter der Frühstücks-Terrasse. Diesmal hat er ein glückliches Händchen, diese Produktion ist neu und frisch, die Musiker Profis und der Komponist voll im Trend. Jan ist zufrieden soweit. „Was wollten die Polizisten eigentlich?“ – „Liebster, deine Tochter schläft mit einem Bankierssohn.“ – „ Ach. – Ist das jetzt ein Straftatbestand?“ – „ Nee, aber schlecht für’s Image.“ – „Und ich dachte, sie ist mit diesem Joe.“

Es ist vier Uhr morgens, die Musik ist aus und Trixi ist hellwach.