Kein Netz

Ein Haus kaufen ist ja ganz okay, eigentlich. Obwohl, ihre Mutter hat gerade ihren Job verloren, also, ist das schlau jetzt? Und vor allem: Doch nicht hier! Nur Grün und sonst gar nichts. Ein paar duftende Blüten bringen da auch nicht weiter. Keine Leute auf der Straße, einfach nur ruhig. Außer ihren Eltern und dem Makler. Der Typ textet die beiden komplett zu mit seinem Lobgesang auf diese alte Hütte, oh pardon, historisches Reetdachanwesen. Worte machen die Sache auch nicht besser.

Henriette ist sauer. Noch nie hat sie in ihrem 15-jährigen Leben das Gefühl gehabt, dass ihre Eltern sich über ihre Wünsche, schon gar nicht über ihre altersbedingten, somit angemessenen Bedürfnisse hinwegsetzen. Immer konnte sie mit ihnen vernünftig reden, mit ihrer Mutter Lilly auch sehr gut unvernünftig und trotzdem ist doch jedes Mal eine Lösung herausgekommen. Irgendwie. Zum Beispiel, dass sie mit dem Bildungssystem in diesem Land nicht kompatibel ist. Das haben sie doch auch eingesehen, weil sie es mit ihr erleben mussten. Es ist ja keine böse Absicht, dass sie mit den meisten Lehrern nicht kann, es ist einfach keine Verständigung möglich. Jedenfalls nicht ohne schmerzhafte Missverständnisse. Und das halte mal einer durch über die Jahre. 13 Jahre, genau genommen, davon liegen noch zwei vor ihr, denn am Abitur wird nicht gezweifelt. Das steht nicht zur Diskussion. Sonst fast alles. Manchmal wird mehr diskutiert als ihr selbst lieb ist. Bei den Schulausweisen, zum Beispiel, zum Vorzeigen bei Übertreten der roten Linie. Das war so eine Idee, die mal aufkam in ihrer Schule mitten in der Hansestadt, damit nicht unkontrolliert viele Schülerinnen in den Pausen oder Freistunden in Cafés verschwinden. Eine rote Linie ums Schulhaus. Da ist ihr Vater ausgerastet. Hat einen Brief an die Schulleitung geschrieben. Die Schule sei doch kein Kasernengelände oder Hochsicherheitstrakt, und seine Tochter hätte ausdrücklich die elterliche Erlaubnis, sich aus dieser Schule zu entfernen, wenn sie das so entscheide. Bei Übertreten der roten Linie trete seine, Jakob Hagedorns, Erziehungs-und Aufsichtspflicht in Kraft und er habe Vertrauen in Henriette. Was er sich, im Übrigen, auch von ihren Lehrern wünschen würde! Die Ausweise wurden aus Kostengründen nie eingeführt. Aber so wussten schon mal alle, wie ihr Vater tickt und dass er bei irgendwas Stumpfem, Kontrollierendem, insofern Sinnlosem komplett ausrastet. Das war für sie auch nicht nur angenehm. Henriette ist es jedenfalls gewohnt, dass ihre Eltern ihr den Rücken stärken, eher mehr als weniger. Und jetzt das hier! Ein Hauskauf im Nirgendwo. Völlig planlos.

Sie setzt sich auf einen Feldstein, um in Ruhe die aktuellen Posts und Nachrichten auf ihrem Smartphone durchzusehen. Die freundliche Aufforderung ihrer Mutter, doch mit hereinzukommen, um das Haus nun auch von Innen zu besichtigen, ignoriert sie. Geht gar nicht. Auch noch da rein ins Dunkel? Nein danke. Wozu? Ich will hier sowieso nicht sein.

Doch nicht hier! Nur Grün und sonst gar nichts.

Das kreischende Geräusch einer nahen Kettensäge veranlasst Henriette sich die Kopfhörer überzustülpen. Sie tut das schnell, routiniert, ohne aufzusehen. Sie ist nicht interessiert an dieser Welt hier und deren Geräuschquellen. Ärgerlich ist nur, dass ihr phone den Geist gerade aufgibt und sie damit zu den für sie einzig interessanten Welten den Kontakt zu verlieren droht. Aber wo ist hier eine Steckdose zum Auftanken? Henriette beschließt nun doch einmal aufzustehen, um möglicherweise irgendwo am Haus einen Stromanschluss zu finden. Falls man in dieser Gott verlassenen Gegend die Elektrizität schon entdeckt hat. Henriette ist sich da durchaus nicht sicher. Sie stolpert über Maulwurfshügel, durch wuchernde Brennesseln und Spinnenweben, bis ihre erfolglose Suche schließlich am Gartenzaun endet. Ihr auf das Nahziel Steckdose fixierter Blick erhebt sich langsam und nimmt nun auch solches wahr, das in mehreren Metern Entfernung zu sehen ist: Nackter muskulöser Oberkörper, tief sitzende Jeans, Schutzbrille noch so halb über der schweißnassen Stirn, sehr kurze braune Haare. Konzentriert und souverän zerlegt dieser junge Achill den gefällten, mächtigen Baumstamm in Einzelteile, ohne dabei aufzusehen! Henriette weiß nicht wie und warum, aber sie kann sich nicht bewegen. Keinen Zentimeter von der Stelle weg, an der sie nun wie festgenagelt steht. Sie streift ihre Kopfhörer ab und in demselben Moment hört die Kettensäge auf zu kreischen. Magisches Timing! Der junge Mann schiebt die Schutzbrille hoch, gibt dem Teil, das er gerade vom Baumstamm getrennt hat, einen kurzen Tritt, sodass es auf den Haufen zurollt, auf dem sich die Abschnitte bereits stapeln. Henriette weiß, dass sie in diesem Moment eine richtig blöde Figur abgibt, wie sie da steht ohne ersichtlichen Grund und einfach nur glotzt. Fieberhaft überlegt sie wie sie ihre Lage optimieren könnte….und sie…nein, wirklich! Sie hockt sich hin wo sie gerade steht und pflückt Blumen, als sein Blick ihrem begegnet. Das ist schrecklich! Das ist furchtbar! Erstens, er sieht auf sie herab und sie zu ihm auf! Das geht gar nicht! Und außerdem hat sie nun, wie eine Dreijährige, kurzstielige Gänseblümchen in der Hand! Das einzige, was an der Stelle blühte, an der sie in die Knie ging. Oh nein! Henriette flieht aus diesem Bild, in das sie da einfach so hineingestolpert war. Mit klopfendem Herzen schnell um die Hausecke und zurück zu dem einsamen Feldstein, den sie vorhin schon für sich entdeckt hatte. Atmen! Atmen! Hinter dem Haus hört sie die Kettensäge weiter kreischen und sie hat das Gefühl, als würde er dadurch mit ihr sprechen, oder jedenfalls in Verbindung bleiben. So eine Art fremdes Morse-Alphabet. Henriette sortiert sich. Smartphone mit Ladegerät und Kopfhörern in den Rucksack, Gänseblümchen fallen lassen, Rucksack über die Schulter und aufstehen. Ihre Knie geben nach. Die Kettensäge schreit sie an. „Bleib!“ – Oh Gott! Henriette schüttelt sich.

„Das musst du sehen!“ ihre Mutter schaut aus dem oberen Teil dessen heraus, was Henriette vorhin bereits als Klöntür vorgeführt wurde, und winkt sie dringlich heran. Henriette nimmt die Gelegenheit wahr, um sich aus ihrem lähmenden Schockzustand zu befreien. Einfach mal dahin gehen jetzt, Schritt für Schritt. Nichts anmerken lassen. Ihre Mutter mit roten Bäckchen und leuchtenden Augen! Die Lage scheint ernster als gedacht. „Ganz cool, Mama. Bleib mal bitte ruhig jetzt!“, Henriette sieht ihre Mutter beschwörend an, und versucht doch in erster Linie sich selbst zu beruhigen. Das gelingt ihr nur sekundenlang, aber sie stellt fest, dass ihre Mutter offensichtlich nichts von dem Ausnahmezustand, in dem sie sich befindet, mitbekommt. Sie ist zu sehr mit dem sensationellen Ereignis Hauskauf beschäftigt, ja völlig überwältigt, so befindet Henriette.

„Guck doch mal: Eine kleine, total schöne Einliegerwohnung! Die wäre dann für dich!“

Henriette sieht sich um. Daraufhin tauschen ihre Eltern schnell einen heimlichen, hoffnungsfrohen Blick und Henriette, die diesen Blick selbstverständlich registriert, verliert sofort die Lust. „Wenn ihr glaubt, nur weil ich mich jetzt hier umgucke….“ Henriette hört die ernste Stimme ihrer Mutter, bevor sie ihren Satz zuende bringen kann. „Was ist los mit dir? Haben wir dich je zu etwas gezwungen?“ Natürlich nicht. Überflüssige Frage. – Die Kettensäge kreischt von nebenan. – Außerdem darum geht es ja gar nicht. Es ist doch so, wenn sie sich darauf einlässt, das alles hier womöglich mit einem freundlicheren Blick zu betrachten, wenn sie das hier wirklich an sich heran ließe, dann weiß man doch überhaupt nicht wo das schlimmstenfalls enden könnte! Henriette Hagedorn, mit 15 aufs Land verschleppt, Fischbrötchen statt Sushi, Misthaufen statt Coffeeshop. Horror! Ihre gesamte Identität steht auf dem Spiel! Das Kreischen der Kettensäge bricht ab und Henriette wird nervös. Sie schaut durch eines der kleinen Stallfenster und, während hinter ihrem Rücken die schöne Lage am nahen Fluss lobend hervorgehoben wird, versucht Henriette, durch die blühenden Wildrosen hindurch, irgendwie einen Blick auf denjenigen werfen zu können, der doch noch bis eben von da hinten zu ihr herüber gesägt hat. Aber er ist weg. Kontakt abgebrochen.

„Hast du kein Foto?“ will Jule wissen als sie in der großen Pause an der Ecke einen Coffee-to-Go holen. „Nee, Akku war leer.“ Jule ist die Einzige, der sie von ihrer Begegnung mit dem Kettensäge-Typ erzählt hat. Allerdings auch nur das Oberflächliche: Gut aussehender Typ. Überraschende Begegnung. Denkt ja keiner an so was im Nirgendwo. – Das Andere, wie sehr sie dieses Bild verfolgt, wie weich ihre Knie waren und natürlich das mit den Gänseblümchen verschweigt sie. Allen.

Henriette lässt es sich selbst nur in seltenen Momenten spüren, aber in ihr nimmt ganz langsam eine gewagte Vorstellung Form an. Eine wahnsinnig revolutionäre Vorstellung, die ihr in diesen seltenen Momenten Schauer über den Rücken laufen lässt.

Aus dem Portemonnaie ihrer Mutter besorgt sich Henriette – wie immer heimlich – das Geld, das sie braucht, um den Stoff zu bezahlen, der ihr vor der Schule angeboten wird. Das Zeug ist sauber, sie kennt den Typen seit langem. Aber irgendwie ist das alles zur Routine geworden und irgendwie wird es langsam öde.

Abends sitzt sie mit ihrer Mutter auf ihrem Bett und die unterbreitet ihr den Kompromiss. Haus kaufen ja, aber umziehen erst später, wenn Henriette ihr Abi in der Tasche hat. Niemand will sie gegen ihren Willen verpflanzen. Henriette seufzt unmerklich. Ihr Hang zu radikalen Lösungen wird hiermit enttäuscht. Wenn ihre Eltern doch einmal ihr Ding durchziehen und nicht ständig für sie mitdenken würden! Henriette zwingt sich ihre Mutter anzusehen und nickt. „Mal gucken.“ Der forschende Mutter-Blick ruht noch einen Augenblick lang auf ihr und Henriette verspannt sich. Sie setzt ihr Neutral-und-Unbefangen-Gesicht auf, bis ihre Mutter sich endlich von ihr löst, aufsteht und mit einem liebevollen Gute Nacht Kuss aus ihrem Zimmer verschwindet. Henriette atmet auf. Dieses grenzenlose Vertrauen kann echt belastend sein. Henriette steht auf, schminkt sich und legt sich danach in ihrem Sommerkleid wieder ins Bett. Sie hört noch die Schlafzimmertür ihrer Eltern klappen, dann stülpt sie sich Kopfhörer über die Ohren, stellt am Laptop neben dem Kopfkissen ihre Lieblingsmusik an und entschwindet in Träume weg von hier, weg aus ihrer alltäglichen Welt.

Das Klopfen an der Verandatür wird lauter und holt sie zurück aus einem unsicheren Flug in fremde, exotische Länder. Henriette schreckt hoch, reißt die Tür auf und blafft die Truppe, die davor wartet an:“ Hey! Seid ihr bescheuert? Meine Eltern schlafen um die Ecke!“ –

„ Entspann dich! Die haben bisher noch nie was gemerkt.“ – „Und das soll auch so bleiben“, giftet Henriette zurück und außerdem habe sie keinen Bock mehr ewig den Stoff für alle zu bezahlen. Die drei Jungs aus ihrer Klasse lassen sich mit lässiger Selbstverständlichkeit auf dem Boden ihrer Veranda nieder und sehen Henriette auffordernd an. Widerwillig reicht sie ihnen den Stoff. „Für jeden ein Zehner!“ Louis, der Wortführer, vertröstet mit leiser Stimme, die keinen Widerspruch duldet, auf morgen oder Anfang nächsten Monats, wenn sie wieder Taschengeld einstreichen. Henriette kriegt die Wut. Sie ist einfach nicht gut drauf, wenn sie aus dem Schlaf gerissen wird, und noch schlechter, wenn Louis, dieser Schnösel aus reichem Hause, ihr erzählen will, dass er kein Geld hat. „Besorgt euch die Kohle, mir egal woher!“ Henriette wohnt mit ihren Eltern im Erdgeschoß eines Eckhauses nah bei ihrer Schule. Das ist praktisch, denn sie hat ein Zimmer mit ebenerdiger Veranda, das zur Seitenstraße rausgeht, während der Rest der großen Altbauwohnung mit ihren schlafenden Eltern darin, zur anderen Straße zeigt. Seit über einem Jahr hat sich ihre Veranda für die coole, prominente Kiffertruppe aus ihrer Klasse als geeigneter nächtlicher Treffpunkt bewährt. Nicht zuletzt, weil Henriettes Eltern keine nächtlichen Kontrollgänge oder so was veranstalten wie andere. Nur einmal stand die Nachbarin von oben vor ihrer Wohnungstür und hat sich bei ihrer Mutter über die süßliche Nebelwolke beschwert, in die sie neulich nachts von unten gehüllt worden sei. Eine spontane Geburtstagsparty mit unkontrollierbarer Überbelegung der Veranda. Blöd gelaufen. Aber Henriette konnte das erklären, ohne sich selbst zu belasten, hat sich für ihre Gäste entschuldigt und damit war das Thema durch. Aber jetzt gehen ihr diese nächtlichen Gäste mit ihrer unverfrorenen Penetranz selber auf den Geist. Die ziehen mich runter, stellt sie für sich fest, aber dann kommt Jule und Henriette setzt sich doch wieder mit auf die Erde und teilt das immer gleiche Ritual. Mit bekifftem Kopf sieht sie den Typ mit dem beeindruckenden Oberkörper und der Kettensäge vor sich, der sie von diesen schmalbrüstigen, insektenhaften Klappergestellen hier befreit. Einfach verscheucht, indem er einmal fest auftritt. Und huuiiii…flattern sie davon. Henriette lacht befreit. Aus dem Nebel heraustreten und wieder Lust haben Musik zu machen. Zum Beispiel. Überhaupt wieder Lust haben zu irgendwas. Nicht mehr supercool und bedröhnt sein zu müssen um dazu zugehören. Und nicht dazugehören geht gar nicht. Da bliebe ja nur noch, sich auf die Seite der ehrgeizigen Lernrennpferdchen in der Klasse zu schlagen, die nur lernen und wiedergeben, lernen und wiedergeben bis sie kotzen. Besten Dank. Das ist nicht ihr Ding. Henriette will leben. Trotz Schule. Und zwar jetzt. Und nicht irgendetwas tun, das sich jetzt schrecklich anfühlt, nur damit es sich irgendwann später vielleicht in etwas verwandelt, das sich dann gut anfühlt. So denken die Lernrennpferdchen. Denkt Henriette. Diese Lebensart findet sie abschreckend. Aber diesen Leuten hier aus ihrer Klasse, die jede zweite Nacht auf ihrer Veranda sitzen und doch so was wie Freunde sind eigentlich, hat sie noch nie ihre Musik vorgespielt. Zum Beispiel. Sie weiß, die würden sich nur lustig machen über sie und das tut sie sich nicht an. Und wenn das nicht möglich ist, sich mit dem zu zeigen, was ihr wirklich viel bedeutet, was ist das denn hier überhaupt für eine Veranstaltung?

Als es hell wird auf ihrer Veranda, Louis und die Jungs langsam aufwachen und sich benommen, wie in Zeitlupe, über das Geländer, durch die Büsche und dann über die noch menschenleere Straße davonmachen, sie Jule wachrüttelt, aus ihrem Bett verscheucht und sich selbst noch für ein paar kostbare Momente unter die angewärmte Decke kuschelt, da weiß Henriette, dass gerade etwas zu Ende gegangen ist.